Das Tretauto

[Köln, Nordrhein-Westfalen; Dezember 1946]

Es war noch zu der Zeit, als man das, was man gerne besitzen wollte, selber machen musste. Man konnte es nicht kaufen; sei es, dass man kein Geld hatte, sei es, dass es überhaupt nicht käuflich zu erwerben war. Ein solches „Es“ war ein blaues Tretauto.

Mein Vater hatte es gebaut für meinen älteren Bruder. „Gebaut“ ist eigentlich nicht das richtige Wort. Er schuf es vielmehr, so wie Gott die Welt erschaffen hatte aus dem Nichts.

Denn es war ja nichts da, oder richtiger, fast nichts. Und aus dem wenigen, das da war, entstanden unter den Händen meines Vaters die wunderbarsten Dinge.

Er war dann fern jeder Hektik, die Ruhe selbst, eine geheimnisvolle, aber auch bergende Ruhe, die uns in seinen Bann zog. Sehr zum Leidwesen der Mutter, die diese himmlische Ruhe jedesmal aus der Fassung brachte: Wie konnte ein Mensch nur eine solche Geduld haben

Während dieses schöpferischen Tuns kam nicht ein unbeherrschtes oder gar böses Wort von seinen Lippen. Ich glaube, dass sein Wesen mich damals anrührte, denn noch heute steht für mich fest: Alle guten Dinge gedeihen in der Stille, sie benötigen Geduld und Güte und nicht der großen Worte. Leider entschwindet diese Weisheit mir allzuoft, und ich laufe Gefahr, mir selber untreu zu werden.

Das Tretauto wuchs also heran, bis es vollständig war, bis es gleichsam geboren war ein Wunderwerk an Eleganz und technischer Raffinesse. Und man weiß nicht, wer mehr erstrahlte, ja wessen Augen mehr glänzten, die des Erbauers oder die des Fahrers.

Mein Bruder war 1942 vier Jahre alt und starb im März 1945 im Alter von sieben Jahren. Vater musste an die Front. Und als er wiederkam, war mein Bruder gestorben.

Es dauerte lange, bis mein Vater den Schmerz überwunden hatte. Ob er je da hinausfand, weiß ich nicht. Das Schweigen war ihm immer schon sein Zuhause gewesen, und er öffnete nur ganz selten die Tür zu seinem Innern einen Spalt und ließ einen Blick zu. Und wenn es einmal geschah, dann war es weniger ein Wort als vielmehr ein Blick, ein Lächeln oder auch nur ein tiefer Atemzug oder eine Gebärde.

Aber nun stand dieses Wunderwerk von einem Auto im Keller. Doch aller Glanz war von ihm gewichen. Staub bedeckte den glatten Lack, und an den Rädern klebte noch der Schmutz von seiner letzten Fahrt. Einmal trat ich in den Keller und erschrak ein wenig, denn Vater stand an seinem Werk, eine ganze Weile.

Schließlich strich er mit seiner linken Hand über den Lack, ja er streichelte das Gefährt, und die schöne blaue Farbe leuchtete, von der Staubschicht befreit, und zeigte erst jetzt ihre glänzende Schönheit.

Als er mich bemerkte, blieb er unsicher stehen. Schließlich ging er in die Knie und drückte mich, der ich näher gekommen war, an seine Brust. Ein kühler Tropfen fiel auf meine Hand. Wir redeten nicht miteinander, und auch später hätte jedes Wort unser Geheimnis zerstört.

Es ging gerade auf Weihnachten zu, und insgeheim wünschte ich mir, Besitzer des Tretautos zu werden; aber ich wagte ja nichts davon zu sagen. Es wäre wohl ein besonders günstiges Geschenk für mich. Das Christkind brauchte jedenfalls kein Geld auszugeben, das Auto war ja schon da.

Und tatsächlich, eines Abends war das Auto weg. Aber ich brauchte nur dem Duft der frischen Farbe nachzugehen. Blitzeblank stand es in einem Bretterverschlag, die Stoßstangen waren neu gestrichen, mit schwarzer Farbe und die Radfelgen mit gelber. Ich war fest davon überzeugt: Das war mein Weihnachtsgeschenk.

Wenige Tage vor Weihnachten hielt ein LKW vor unserem Haus, damals ein nicht alltägliches Ereignis, aber an diesem Abend ein wunderbares zugleich.
Der LKW brachte Kartoffeln. Sechs Säcke voll Kartoffeln Sechs Zentner Eine herrliche Sache. Wir konnten zu Weihnachten Kartoffeln essen
Die Männer schafften die Kartoffelsäcke in den Keller, einen Sack nach dem anderen. Meinen Vater sah ich nicht in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Und dann trugen die Männer das blaue Tretauto aus dem Keller, über den Hof, zur Straße und schoben es in den dunklen Laderaum.
Das Auto verschwand.

Ich habe Vater an diesem Abend nicht mehr gesehen, erst am nächsten Abend, als er von der Arbeit kam. Mutter hatte Kartoffeln gekocht und dann mit Zwiebeln gedämpft. Dies musste mit Wasser geschehen, denn Fett gab es keines.
Aber an diesem Abend schmeckten die Kartoffeln nicht; und das lag nicht nur daran, dass Mutter sie hatte anbrennen lassen.

Später, ich glaube, es war zwei oder drei Jahre danach, baute Vater wieder ein Tretauto, ein grünes mit roten Kotflügeln. Aber es fuhr nicht so gut wie das blaue, und das war keine Einbildung

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des ZEITGUT-Verlags
Unvergessene Weihnachten, ISBN 978-3-86614-149-0

"Hans Engels"

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Weihnachten
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