Wie wir Weihnachtsbäume „organisierten“

Die erste Friedensweihnacht nach dem Krieg Alle Waffen schwiegen nun schon seit einigen Monaten. Trotzdem waren es immer noch entbehrungsreiche Zeiten. Ich absolvierte das zweite Jahr meiner Ausbildung zur Krankenschwester im Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin-Grunewald und arbeitete derzeit auf einer Inneren Männerstation.

Am 21. Dezember sagte unsere Oberschwester: „Kinder, in drei Tagen ist Weihnachten, und wir haben noch keine Weihnachtsbäume für unsere Krankenzimmer“

Weihnachten wurde in diesem konfessionellen Haus immer besonders festlich und stimmungsvoll begangen. Jede Station schmückte ihre Räume so schön wie möglich. Auf allen Fluren hingen große Herrnhuter Adventssterne, und in jedem Patientenzimmer stand ein kleiner Weihnachtsbaum. Nur in diesem Jahr konnte man nirgendwo auch nur das kleinste Bäumchen auftreiben, und der Grunewald war kahlgefegt. Unsere Oberschwester hatte eine „zündende“ Idee. Eine zweite Schwesternschülerin, ein Pfleger und ich bekamen einige Matratzenschonbezüge, ein kleines Beil, ein Knäuel „Strippe“ wie der Berliner Bindfaden nennt und ein paar Groschen Fahrgeld in die Hand gedrückt und gesagt: „Ihr drei fahrt heute Nachmittag mit der S-Bahn hinaus in Richtung Potsdam und seht zu, dass ihr in einem Waldstück mindestens zehn Tannenbäume ergattern könnt, die ihr in diesen Schonbezügen möglichst unauffällig ins Krankenhaus bringt.“

Wir mussten mit der Berliner Stadtbahn vom britischen Sektor Berlins in die russisch besetzte Zone fahren. Das war 1945 kein Problem. Die russischen Soldaten kontrollierten aber gelegentlich das Gepäck der Reisenden. Wir stiegen an einer kleinen S-Bahn-Station aus, die uns verheißungsvoll erschien. Doch die Bäume, die wir hier sahen, waren alle viel zu groß, um mit unserem kleinen Beil gefällt zu werden. Nach längerem Herumwandern gelangten wir zu einer kleinen Schonung. Dort lag oh Wunder ein ganzer Stapel kleiner gefällter Kiefern. Es waren zwar nicht die gewünschten Tannen, aber besser als gar nichts

Jetzt mussten wir ganz schnell handeln, denn wir wollten doch nicht erwischt werden
Meine Mitschwester protestierte: „Das ist doch Diebstahl Mein Vater ist Rechtsanwalt.“

Aber sie wurde überstimmt und wir packten in Windeseile zwölf Bäumchen ein, und ein besonders kleines steckte ich für mich mit ein. Wir hatten Glück und kamen wohlbehalten, ohne Kontrolle, im Krankenhaus an. Unsere Oberschwester war zwar etwas enttäuscht, weil es „nur“ Kiefern waren, aber als am Heiligen Abend in jedem Krankenzimmer die geschmückten Bäumchen aufgestellt und die Lichter angezündet waren, strahlten die Augen unserer Patienten mit den Kerzen um die Wette. Die größte Edeltanne der Welt hätte nicht mehr Freude bringen können.

Abends bekam ich dann zwei Stunden frei, um meine Mutter zu besuchen, die in der Nähe wohnte. Als einziges Geschenk hatte ich für sie das Bäumchen. Meine Mutter schenkte mir ein Paar Schuhe, eine Kostbarkeit in jenen Tagen. Sie waren hässlich und das harte Leder drückte, aber man konnte darin laufen. Sie hatte die Schuhe aus einer alten Ledermappe bei einem Schuster arbeiten lassen. Als Macherlohn erhielt er neben dem Geld Rauchermarken, die Mutter dafür aufgespart hatte. So feierten wir Weihnachten und waren dankbar, überlebt zu haben.

Langsam wurden die Zeiten wieder „üppiger“. Man konnte wieder Weihnachtsbäume kaufen und es gab auch wieder „richtige“ Geschenke, aber Weihnachten 1945 war schon ein ganz besonderes Fest.

[Berlin-Grunewald; 1945]

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des ZEITGUT-Verlags
Unvergessene Weihnachten. Band 4
Erinnerungen aus guten und aus schlechten Jahren. 1923-1994
192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, Zeitgut Verlag, Berlin.
Taschenbuch ISBN: 978-3-86614-135-3, Euro 5,90

"Ingrid Fimmel"

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Weihnachten
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