Die Annonce

Es war in der Adventszeit des Jahres 1945. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war unsere fünfköpfige Familie endlich wieder beisammen. Kurz vor Kriegsende in unserer Heimatstadt Magdeburg total ausgebombt, bestand unser Hab und Gut nur noch aus zwei geretteten Koffern mit Kleidungsstücken. Wir waren sehr beengt in einer kleinen Wohnung vorübergehend untergebracht. Die eigentliche Mieterin war mit ihrem Kind während der Kriegszeit evakuiert worden und wohnte auf dem Lande. Natürlich wollte sie wieder zurückkommen, aber dies ging erst, nachdem wir etwas anderes gefunden hatten. Das Jahresende mussten wir noch dort verbringen.

Mein Bruder war, wenn auch verwundet, aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt; auch meine Schwester kam von der Seefahrt zurück. So sahen wir dem bevorstehenden Weihnachtsfest mit Dankbarkeit und Freude entgegen.
Dieses Fest sollte nun in unserer Familie nach all den Erlebnissen und Entbehrungen etwas Besonderes werden. Es sollte sich auch äußerlich, durch kleine Geschenke und Überraschungen, abheben von den anderen Tagen. Das war jedoch 1945 sehr schwer, es gab fast nichts. Da mussten die Erwachsenen verzichten. Meine Erwartungen ich war damals 12 Jahre alt sollten jedoch nicht gänzlich enttäuscht werden.

Meine Schwester hatte die Idee, eine Annonce aufzugeben. Wo und wie aber?
Eine Zeitung erschien noch nicht wieder. Anstelle dessen wurden Bretterplanken und Mauern genutzt, um auf selbstverfassten Zetteln Such- oder Tauschwünsche zu veröffentlichen. Und so schrieb meine Schwester einen derartigen Zettel mit folgendem Text: „Biete Lebensnotwendiges, suche Spielzeug für 12-jährigen Jungen und Kaffee.“ Mit letzterem gedachte sie, auch meiner Mutter eine Freude zu bereiten. Mit dem Zettel, Nägeln und Hammer bewaffnet machte sich meine Schwester also auf den Weg zu einer Hausruine an einer Straßenecke, wo sie die Annonce an eine Holzplanke nagelte. Davor stand immer eine Schar Menschen und las die Tauschangebote.

Ich erfuhr von dieser Sache natürlich nichts. Wie mir meine Schwester später erzählte, ist sie täglich zu der Annoncen-Planke gegangen, immer mit der Hoffnung auf ein Angebot. Dann endlich, ein paar Tage vor Heiligabend, stand eine Adresse unter der Anzeige. Auf die Nachfrage nach Spielzeug, meldete sich ein junges Ehepaar. Der Mann besaß noch einiges aus seiner Kinderzeit, das er gern gegen Lebensmittel eintauschen wollte. Den Leuten konnte mit etwas Fleisch geholfen werden, und meine Schwester erhielt dafür das gesuchte Spielzeug für ihren kleinen Bruder.

Auch für den Kaffee bekam sie ein Angebot. Es meldete sich eine alte Frau. Meine Schwester ging am Tag vor Heiligabend zu ihr und nahm ebenfalls etwas Fleisch mit, denn wir hatten durch eine Schlachtung, bei der mein Bruder half, ein größeres Stück als Lohn bekommen. Die Vorfreude meiner Schwester war so groß, dass sie den weiten Weg schnell zu Fuß zurücklegte. Dort angekommen, gab es aber eine Enttäuschung für sie: Die Frau bot nur Malzkaffee
Dies meinte sie mit dem Wort Kaffee. Also ein Missverständnis. Meine Schwester entschloss sich, das Mitgebrachte dort zu lassen, den Malzkaffee auch. Als Gegenleistung entdeckte sie bei der alten Frau ein paar Freudentränen, und das war Dank genug. Es war wie ein Licht, das in schwerer Zeit angezündet war. Ihr Weihnachtsbraten war gesichert. Zu dem Bohnenkaffee sind die Frauen am Ende doch noch gekommen. Wie weiß ich nicht.

Was denkt wohl ein Kind, wenn es keinen Weihnachtsbaum zu Weihnachten geben soll? Ich drießelte meinen Vater schon lange vor dem Fest nach einem Weihnachtsbaum. Zu kaufen gab es keinen, das wusste ich auch. Aber was sollte werden? Ich konnte mir jetzt, wo wir doch alle wieder zusammen waren, Weihnachten ohne Baum einfach nicht vorstellen.

Mein Vater wusste Rat: „Dann gehe ich in den Wald schließlich war er mal Familienbesitz und hole selber eine Fichte“

Sprach‘s und machte sich am anderen Morgen früh auf den Weg. Der Wald lag 25 Kilometer von uns entfernt, in östlicher Richtung über der Elbe. Die Brücken waren gesprengt, nur eine Holzbrücke war gebaut worden. Eisenbahnzüge verkehrten darüber jedoch nicht. Also musste Vater zu Fuß, etwa 2 ½ Stunden bis zum nächsten Bahnhof auf der anderen Elbseite gehen.

Da fuhr auch kaum ein Zug. Kohlen für die Lokomotiven waren sehr knapp. Schließlich ging es doch los, kalt und voll waren die Wagen. Endlich erreichte der Zug den Ort, wo der Wald lag. Bäume gab es dort genug, so dass die Auswahl nicht schwerfiel, und er einen Weihnachtsbaum selbst schlagen konnte. Der Rückweg war genauso strapaziös wie der Hinweg. Am anderen Tag erst traf der Vater wieder zu Hause ein und berichtete uns von seinen Erlebnissen, aber es hatte sich gelohnt.

Am Heiligen Abend stand der Baum mit selbstgegossenen Kerzen und selbstgefertigtem Christbaumschmuck im Wohnzimmer. Darunter lagen für mich drei Kinderbücher und ein Fußballspiel.
So konnte die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergefundene Familie ein glückliches Weihnachtsfest feiern. Meine Schwester freute sich über die gelungene Überraschung für den kleinen Bruder und war überglücklich. In der heutigen Zeit bedarf es dazu weitaus größerer Geschenke die Zeit ist eine andere.

[Magdeburg/Elbe; Advent 1945]

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des ZEITGUT-Verlags, Unvergessene Weihnachten. Band 1
Erinnerungen an gute und an schlechte Jahr. 1918-1959
42 spannende und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen
192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, Zeitgut Verlag, Berlin.
ISBN: 3-933336-73-2, Euro 5,90

"Georg Günther"

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