Christstollen

Es mag so um die Zeit gewesen sein, als das tapfere Schneiderlein seine Abenteuer bestand, also vor vielen, vielen Jahren. Und der Ort, wo sich die Geschichte zutrug, war eine alte Stadt mitten in Deutschland. Dort gibt es einen angesehenen, kunstfertigen Bäckermeister, der seinem Brot und Backwerk nicht nur den besten Geschmack, sondern auch besonders wohlgelungene Formen zu geben wußte. Deshalb kam zu ihm die Kundschaft von weit her, und die vornehmsten Familien der Stadt kauften bei ihm Brot und Kuchen.

Kein Wunder, dass der Bäckermeister bald reich wurde und selber zu den angesehensten Bürgern der Stadt zählte.

Überhaupt blühten zu jener Zeit Handel und Wandel. Der reiche Bäckermeister stiftete für die Kirche eine kostbare Weihnachtskrippe, deren lebensgroße Gestalten, Maria und Josef und das Jesuskind von einem Künstler aus Holz geschnitzt waren und in leuchtende Farben gefaßt. Das heilige Wickelkind trug sogar einen goldenen Strahlenkranz ums kindliche Angesicht.

Jedes Jahr zur Weihnachtszeit wurde diese kunstvolle Figurengruppe in der Pfarrkirche aufgebaut, und Kinder wie Erwachsene ließen sich von dieser eindrucksvollen Darstellung der Heiligen  Nacht von Bethlehem in die richtige Weihnachtsstimmung versetzen.

Aber nicht alle Welt war voll christlicher Liebe und Friedfertigkeit. So wurde das Land eines Tages in den Krieg gestürzt, und ein barbarisches Heer von Ungläubigen  eroberte die Stadt. Wilde Horden zogen durch die Gassen und brandschatzten und plünderten, was ihnen in die groben Hände fiel.

Besonders die Kirche mit ihren wertvollen Kunstgegenständen aus Gold und Silber raubten die Frevler völlig aus. Aber auch die geknechteten Bürger durchlitten grausame Zeiten.

Dennoch war die abscheuliche Kriegsfurie eines Tages genauso plötzlich davongaloppiert, wie sie über Land und Leute hergefallen war. Die Toten wurden betrauert, Wunden wurden gepflegt, Brandstätten aufgeräumt und die Kirchen in gebetswürdigen Zustand versetzt, für das kurz bestehende Weihnachtsfest.

Als man aber nach dem alten Weihnachtsbrauch die schönen Holzfiguren der Krippengruppe zusammenstellen wollte, bemerkte man mit Entsetzen, daß die wüsten Kriegsknechte offenbar das Jesuskindlein geraubt hatten. Bestimmt war der goldene Strahlenkranz Verlockung dazu gewesen, und die zierliche Größe der Kindesfigur hatte die Mitnahme erleichtert.

Schnell verbreitete sich diese Kunde in der Stadt und es herrschte allenthalben Entrüstung und Trauer. Aber niemand wußte einen Rat, wo man in diesen Notzeiten, und dazu noch in Eile, ein neues Jesuskindlein herbekommen sollte. Andererseits, eine Heilige Familie im Stall zu Bethlehem vor leerer Krippe, ohne Christkind das war kaum vorstellbar.

Da wußte der kluge Bäckermeister Abhilfe. "Sorgt Euch nicht" sagte er zum Pfarrherrn, "bevor wir eine Welt ohne Erlöser darstellen, werde ich lieber selber ein Wickelkind Formen …und morgen, zum Heiligen Abend, wird es in der Krippe liegen"

Daraufhin ging er in seine Backstube und schuf einen Kuchen, der in Größe und Form einem Fatschenkindl täuschend ähnlich sah. Sogar die weißen Windeln wußte er anzudeuten, indem er das eßbare Wickelkind mit weißem Zucker überpuderte. So blieb am Heiligen Abend die Krippe nicht leer, und die Gläubigen schöpften wieder Hoffnung.

Weil aber noch große Not herrschte, verschenkte man den kindsförmigen Weihnachtskuchen nach dem Christfest an die Bedürftigen. Da war die Freude doppelt groß. Da jedoch der Kuchen auch nach Tagen noch vorzüglich schmeckte, wurde er allenthalben gelobt. Deshalb formte und buk der fromme Meister nun jedes Jahr nach seinem Rezept ein neues Fatschenkindl in Kuchenform, selbst dann noch, als längst wieder ein kunstvoll holzgeschnitztes Jesuskind die Heilige Familie in der Krippe vervollständigte.

Es dauerte nicht lange, da versuchten auch andere Bäckermeister dieses Christkindl aus Kuchenteig nachzuahmen, für ihre Kundschaft. Und die Art und Form diese festen Weihnachtskuchens wurde so beliebt, daß er als Hinweis auf das himmlische Wickelkind bis in unsere Zeit allweihnachtlich gebacken wird. Wir kennen ihn alle unter dem Namen: "Christstollen".   

"Wilhelm Dinauer"

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