Der letzte Weihnachtsmann

Dichte große Schneeflocken verzauberten das Leben in eine Märchenwelt. Die Kinder im Dorf nutzten die Gunst der Stunde und beschlossen, einen ganz großen Schneemann zu bauen, größer als all die Jahre zuvor. Freudig stapften sie an den Waldesrand vor die hohen Tannen. Man sah rotbäckige Kinder, wie sie fleißig Schnee zu Kugeln rollten. Diese stapelten die großen Helfer aufeinander und formten sie zu einer Riesenkugel. Zwischendurch ließ der dichte Schneefall etwas nach und das bisherige Werk konnte begutachtet werden.
„Höher kommen wir jetzt nicht mehr, wir brauchen eine Leiter Wer holt eine von zuhause?“, rief Peter in die Runde.
„Bin schon unterwegs“, sagte Florian und spurtete davon.
Sie nutzten die Wartezeit für weitere Überlegungen, denn ein richtiger Schneemann brauchte ja einen großen Schal, eine Mütze, eine Möhre für die Nase, zwei Eierkohlen für die Augen, gebogene Stöckchen für den Mund und einen Besen für den Arm. Fast jedes der Kinder lief nach Hause und brachte die notwendigen Utensilien mit zurück. Jetzt konnte auch der Bau weitergehen und kleinere Schneekugeln wurden herangeschafft und hinaufgereicht. Es dauerte nicht lange und der heißersehnte Schneemann war fertig. Lustig sah er aus und schien zu den Kindern hinunter zu lächeln.

Die kleine Gundi rief ganz aufgeregt: „Seht nur, der Schneemann lacht mich an und wackelt mit der Nase“.
„Ja, ja der blinzelt auch mit den Augen und streckt gleich noch die Zunge raus“, fügte ihr größerer Bruder hinzu.

Es dunkelte bereits, als sie sich wie pitschenasse Pudel auf den Heimweg machten. Peters Mutter öffnete die Tür und man hörte sie verzweifelt sagen:
„Peter, wo kommst du schon wieder so naß her Jetzt habe ich keine trockenen Hosen mehr für dich“ und zog ihn ins Zimmer.
„Natürlich von draußen“, murmelte der Großvater verständnisvoll und zwinkerte Peter zu.

Der Tag der Wintersonnenwende stand vor der Tür. Ein recht alter Weihnachtsmann aus dem Nachbarsdorf, dem das Laufen schon schwerfiel, hatte sich nach altem Brauch auf den Weg zu den Kindern gemacht, um sie zu beschenken. Es war sehr dunkel und nur der Mond brachte etwas Licht. Mißmutig brummelte er vor sich hin: „Mit dem Kinderkram wird mir das langsam zu viel Keiner will mein Nachfolger werden. Weil sie alle keine Zeit haben, angeblich.“
Als er schließlich den Waldrand erreichte, entdeckte er von weitem schon den ungewöhnlich großen Schneemann. Stapfend kam er ihm immer näher und näher. Dann geschah es. Er stolperte über eine dicke Baumwurzel und landete lang vor dem Schneemann. Seine Rute und der schwere Sack flogen durch die Luft und blieben in einiger Entfernung liegen. Sein Bein schmerzte höllisch, vielleicht war es gebrochen.
„Aua, aua, Hilfe, Hilfe“ hallte es durch die Nacht. Doch wer sollte ihn hier schon hören?

Plötzlich vernahm er eine eigenartige Stimme: „Ich will dir gerne helfen. Rutsche dicht an mich ran und atme kräftig gegen meinen Bauch. Nimm deine Hände und höhle mich aus“

Erschrocken schaute sich der weihnachtlich angezogene alte Mann um, konnte aber keinen Menschen erblicken. Noch einmal hörte er die selben Worte und sah nach oben in das Gesicht des Schneemannes, der zu lächeln schien. So seltsam ihm die Situation auch vorkam, gehorchte er doch den Anweisungen des Schneemannes. Die Höhle im Bauch des Schneemannes wurde zusehends größer. Trotz der Schmerzen grub er sich immer weiter in das Innere, als er über sich wieder die eigenartige Stimme sagen hörte: „Mach so weiter, dann wirst du auch nicht erfrieren“.
Verängstigt machte er weiter und schließlich gelang es ihm, sich hineinzuzwängen und schlief bald darauf vor Erschöpfung ein.

Die rote Morgensonne weckte den Verletzten und dieser drehte sich mit all seinen noch vorhandenen Kräften aus seiner mißlichen unbequemen Lage zur Öffnung hin.
„Wo bin ich denn“ staunte er und rieb sich verwundert die Augen.
„Hilfe, Hilfe“, stöhnte er und sein Rufen wurde immer lauter.
„Du hast schon Hilfe bekommen“ sagte die Stimme von oben, „sonst wärst du erfroren“.

Sein Herz fing laut an zu pochen und sein schlechtes Gewissen wurde im Gesicht sichtbar, denn ihm kamen all die Kinder in den Sinn, die auf ihn gewartet hatten.
Während er die Nacht im Bauch des Schneemannes verbrachte, entstand im Ort große Unruhe. Man sah Menschen aufgeregt von einem Haus zum anderen huschen. Fenster und Häuser waren hell erleuchtet und festlich geschmückt, doch Freude kam nicht auf. Keiner wußte, warum der Weihnachtsmann nicht zu den Kindern kam. Schließlich standen Groß und Klein auf den Straßen und Peters Vater rief in die Menge:
„Dem Weihnachtsmann wird doch nichts passiert sein?“.
Ein anderer sagte mit kräftiger Stimme: „Ich glaube schon, denn er ist schon alt. Ihr Kinder geht jetzt nach Hause und legt Euch schlafen und wir werden nach ihm suchen“.

Der Morgen graute schon, als der Verletzte plötzlich in weiter Ferne Stimmen hörte, die seinen Namen riefen.
„Hier bin ich Hier oben am Waldrand“, rief er so laut er konnte.
Sofort eilten die Männer hinauf und entdeckten ihn liegend und schimpfend vor dem großen Schneemann und staunten nicht schlecht über das ausgehöhlte Schneewesen.
Worte wie: „Hermann, was machst du denn für Sachen Haben wir dir nicht oft genug gesagt, daß du nicht mehr alleine gehen sollst?“, mußte er sich anhören und winkte ab. Zwei liefen bereits los um einen Arzt und eine Trage zu holen.

„Nie wieder werde ich den Weihnachtsmann spielen. Das ist einfach nichts mehr für einen alten Mann“, erwiderte er und ließ sich gerne mit einem warmen Schluck Tee verwöhnen.

„Der da, der Schneemann hat mich gerettet“, sprach er und zeigte nach oben.
„Ein Schneemann kann doch nicht retten, wie soll das denn gehen?“, sagte einer der Männer laut und fügte noch hinzu: „Ach Hermann, erzähl doch keine Märchen“.
So gingen die Worte hin und her, doch keiner wollte dem Alten glauben.

Inzwischen erfuhren auch die Kinder von dem verletzten Weihnachtsmann, den man vor ihrem Schneemann gefunden hatte und eilten hinauf zum Waldesrand. Als die kleine Gundi hörte, daß der Schneemann sprechen konnte, so wie es der Weihnachtsmann erzählte, rief sie ganz laut und selbstbewußt:
„Und lächeln kann er auch. Das habe ich genau gesehen. Keiner will mir glauben“.
„Ja, Kleine, ich glaube dir“, sagte der alte Mann ganz ruhig und wandte sich an die erstaunten Gesichter der Erwachsenen, während die Kinder in der Nähe herumtobten, und sprach dann weiter: „Das Leben als Weihnachtsmann macht keinen Spaß mehr. Die Zeiten sind so hektisch und ungemütlich geworden. Keiner hat mehr Zeit, wer will schon mein Nachfolger werden“
Er schaute nach unten und irgendwas schien ihn zu bedrücken. Die Männer bemerkten es und einer fragte besorgt: „Hermann, nun raus mit der Sprache, dir liegt doch was auf dem Herzen Sag es uns doch einfach“
Nach einer Pause drängte es aus ihm heraus: „Wie wäre es mit einem neuen Fest zur Erinnerung an meine Rettung durch einen Schneemann? Jedes Jahr könnten die Kinder zu dieser Zeit viele ausgehöhlte Schneemänner bauen und sie mit Geschenken für die armen Kinder der Umgebung füllen. Ihr werdet sehen, die Freude wird groߓ.

Sprachlosigkeit stand in fast allen Gesichtern, doch Peters Vater entspannte die Situation und winkte die Kinder herbei und fragte: „ Was haltet ihr von einem Schneemann-Fest?“
„Hurra, ein Fest für den Schneemann“, jauchzten die Kinder aufgeregt und kullerten erneut übermütig im Schnee herum.
„Ich muß aber noch dazu sagen, daß dann kein Weihnachtsmann mehr zu euch kommen wird, um euch zu beschenken, sondern ihr könnt dann viele viele Schneemänner mit Geschenke füllen. Es gibt weltweit eine Menge arme Kinder oder die keine Eltern mehr haben, und die würden sich von Herzen freuen, wenn andere Kinder an sie denken“, redete er weiter und wartete gespannt auf die Reaktion.

Die Kinder sahen sich an und waren sich ohne Worte einig. So verkündete der große Peter stolz: „Na klar, wir wollen lieber das Schneemann-Fest und anderen Kindern helfen. Wir kriegen doch das ganze Jahr über genügend Geschenke“.
„Seht nur, wie der Schneemann mich wieder anlächelt“, rief die kleine Gundi.
„Ja, ja, und gleich blinzelt er mit den Augen und wackelt mit der Nase“, fügte der große Bruder hinzu.
„Vielleicht“, erwähnte Gundi leise und stellte sich dicht neben den Schneemann.

Der letzte Weihnachtsmann war sehr sehr erleichtert. Er kam in ärztliche Obhut und konnte noch mitverfolgen, wie sein Schneemann-Fest sich über die ganze Welt verbreitete.

Seither wurde am Ende des Jahres nur noch das Fest der „Schneemänner“ gefeiert. Alle Kinder waren froh und glücklich und kannten den Weihnachtsmann bald nur noch aus den Märchen.

"Heidrun Gemähling"

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