Der Silvesterkarpfen

Normalerweise gibt es bei uns zum Jahreswechsel immer Würstchen und Kartoffelsalat. Doch dieses Jahr sollte es etwas Besonderes geben. Ein Freund hatte die Angelrechte an einem Fischteich gepachtet und brachte uns als Weihnachtsüberraschung einen Karpfen, einen lebenden Karpfen in einem mit Wasser gefüllten Eimer. „Silvester ist Karpfenessen angesagt“, mit diesen Worten verabschiedete er sich und drückte mir den Eimer in die Hand. Da das Behältnis für den Fisch viel zu eng war, zappelte dieser hin und her, so dass das Wasser auf die Diele schwappte und auf den Boden spritzte. Wohin mit dem Fisch? Etwas hilflos stand ich da. Im Eimer konnte er nicht bleiben, also füllte ich die Badewanne mit Wasser und schüttete den Karpfen hinein. Durch die fast wiedergewonnene Freiheit planschte er im Wasser und schwamm hektisch hin und her.

In den nächsten Tagen war nur Duschen angesagt, denn die Badewanne hatte einen neuen Bewohner. Und dieser neue Gast eroberte nicht nur sein neues Heim, sondern auch die Herzen von uns allen. Die Kinder gaben ihm den Namen Emil und fütterten ihn mit Brot und gekochten Kartoffeln. Sobald sich eine Hand dem Wasser näherte, schwamm er nahe heran, als wenn er kuscheln wollte. Auch ich genoss es, auf dem Deckel der Toilette zu sitzen, meine Hand ins Wasser zu halten oder ihm ein Stückchen Brot zu geben. Dabei beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, denn Silvester stand vor der Tür.

Im Kochbuch fand ich mehrere Rezepte, wie ein Karpfen zubereitet wird, Karpfen blau mit Sahnemeerrettichsoße oder Karpfen gegrillt, nur stand nirgends, wie tötet man einen Karpfen. Das Kochbuch wanderte zurück ins Regal. Kein Bedarf Je vertrauter mir Emil wurde, je weniger hatte ich Appetit auf Karpfen.

Am Silvestermorgen standen wir alle vor der Badewanne und betrachteten Emil. Das, was ich die letzten Tage gedacht hatte, wurde von meinem Mann ausgesprochen. „Ich habe gar keinen Appetit auf Karpfen. Lass uns wieder Kartoffelsalat mit Würstchen essen.“ Da wir alle gern wieder die Badewanne benutzen wollten, lud mein Mann uns nach dem Frühstück zu einem Ausflug ein. Und so, wie Emil der Karpfen zu uns gekommen war in einem Eimer, so brachten wir ihn zu einem nahegelegenen Fischteich und gaben ihm seine Freiheit wieder. Mit einem leichten Flossenschlag verschwand er im trüben Wasser.

Übrigens, Würstchen mit Kartoffelsalat schmeckt ausgezeichnet

"Undine Stiwich"

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Silvester
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